aus: DER SPIEGEL 6/2001

Medizin
 
Ins Lid gerammt

Ärzte beklagen die Folgen der Piercing-Mode: Bei rund 600 000 Deutschen ist der Körperschmuck Ursache von Entzündungen oder Allergien.

Manchmal braucht es einen Bolzenschneider zur Öffnung des Geburtskanals - bei einer jungen Frau aus Ulm zum Beispiel. Sie hatte ihren Genitalbereich mit diversen Metallringen und -steckern geschmückt. Und die wollten sich, als die Wehen einsetzten, nicht lösen.

Um das Baby nicht mit einem Kaiserschnitt auf die Welt holen zu müssen, fummelte der Arzt den Piercing-Schmuck Stück für Stück aus dem Intimbereich. Erst dann hatte das Kind genug Platz und konnte auf natürlichem Wege geboren werden.

Das Geschäft mit dem bizarren Körperschmuck floriert - und oft sind die Folgen ernster als bei der Ulmer Mutter. Besonders gefürchtet sind Hepatitis B oder C. Wer sich beim Anbringen eines Piercings eine dieser chronischen Leberentzündungen zugezogen hat, muss häufig miterleben, wie sein Organ von einem Virus zerstört wird.

Berichtet wird zudem von Patienten, deren Herzklappen zerfressen wurden, nachdem sich ein Piercing-Ring infiziert hatte und die Erreger in die Blutbahn geschwemmt worden waren. Die Ärzte mussten ihnen künstliche Klappen einsetzen. Und auch Britney Spears, an Nabel und Brustwarze gepierct, sollte aufpassen: Zumindest eine Frau hat schon wegen eines entzündeten Rings eine Brust verloren.

Zwar leiden die meisten Geschädigten nicht an solch drastischen Folgen, doch die Anzahl der Betroffenen alarmiert: Nach einer kürzlich vorgestellten Untersuchung von Ärzten des Bremer Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße kommt es bei fast jedem fünften Gepiercten zu Entzündungen oder Allergien. Das sind in Deutschland bei geschätzten zwei bis drei Millionen Körperschmuck-Trägern immerhin bis zu 600 000 Menschen.

Schuld daran sind vor allem die Bedingungen, unter denen zugestochen wird: In Studios oder auf Flohmärkten fuhrwerken oftmals Ungelernte an Augenlid, Bauchnabel oder Ohr herum. Jeder in Deutschland darf - ohne Schulung - ein Piercing-Geschäft eröffnen. Nicht selten stechen die Piercer zu, ohne je etwas von Desinfektion gehört zu haben. Dass sich viele dieser Wundstellen schon nach Tagen entzünden, verwundert nicht.

Beim Zungenpiercing geht es mitunter sehr viel schneller: Weil die Zunge von vielen Gefäßen durchzogen ist, kann sie nach dem Durchstechen binnen Sekunden mit Blut voll laufen, anschwellen wie ein Wasserballon und so die Atemwege versperren. Nur ein Luftröhrenschnitt kann dem Erstickenden dann noch helfen.

Auch an Ohren und Augen können Piercings Schäden hinterlassen. Benedikt Folz, HNO-Oberarzt an der Universität Marburg, kann sich an einen Patienten besonders gut erinnern: Der junge Mann hatte sich einen Stecker in die obere Ohrmuschel schießen lassen. Die Stelle hatte sich so stark entzündet, dass der Knorpel "komplett kaputt" war - wo einmal das Ohr gewesen war, hing "nur noch ein Hautsack" herunter. Mit enormem Aufwand gelang es Folz und seinen Kollegen, das zerstörte Ohr mit Knorpel aus einer Rippe wieder aufzubauen.

Der Ulmer Augenarzt Hans-Walter Roth vom Institut für Wissenschaftliche Kontaktoptik musste einen Piercing-Träger wegen einer Hornhautvergiftung behandeln. Bei ihm hatten sich aus dem Gesichtsschmuck Metalle wie Kupfer herausgewaschen und waren vom Blut zum Auge befördert worden. Ein anderer Patient kam mit der Lähmung eines Augenlids in seine Praxis: Er hatte bei einem Discobesuch einen Ring von seiner Freundin geschenkt bekommen und sich diesen direkt an Ort und Stelle "ins Lid gerammt", erzählt Roth.

Nach Schätzung des Ersatzkassenverbands Schleswig-Holstein kosten solche Komplikationen in Deutschland "sicher einen zweistelligen Millionenbetrag". Berücksichtigt seien dabei nur die Wundbehandlungen, sagt Pressesprecher Lothar Thormählen. Hinzu kämen sowohl die Kosten für die Therapie chronischer Infektionen als auch die für die Behandlung der - durchaus häufigen - allergischen Reaktionen. Bei rund zehn Prozent aller Frauen und einem Prozent aller Männer juckt die Haut, wenn sie mit Nickel in Kontakt kommt. Trotzdem steckt das Metall immer noch in vielen Ringen und Steckern.

Inzwischen werden selbst Kleinkinder oder Säuglinge gepierct. HNO-Arzt Folz kennt kleine Patienten, die ihre Stecker aus dem Ohr herausgefummelt und dann in die Lunge verschluckt haben. Noch allerdings scheint die Empfindlichkeit der meisten Eltern beim Thema Piercing groß zu sein. So sah sich der Spielzeughersteller Mattel gezwungen, die geplante Produktion einer Barbie-Puppe mit Nasenring zu stoppen - zu lautstark hatten die Väter und Mütter protestiert.

Trotz der vielen Komplikationen fordern nur die wenigsten Ärzte ein generelles Piercing-Verbot. Kontrovers diskutiert wird allerdings, wer das Stechen übernehmen soll. Augenarzt Roth fordert "qualifizierte, ausgebildete Piercer", die im Idealfall Ärzte sein sollten. Andere Mediziner halten dagegen, dass ein Arzt laut Hippokratischem Eid seinem Patienten keinen Schaden zufügen dürfe. Nichts anderes sei aber das Piercen.

Dass die Patienten das häufig anders sehen, zeigt der Fall in Ulm: Der Frauenarzt, der seiner Patientin zu einer natürlichen Geburt verholfen hatte, bekam es danach mit der Frau zu tun. Die forderte 2500 Mark von ihm - so viel habe der beim Entfernen zerstörte Intimschmuck gekostet.

JAN SCHWEITZER


 


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